Danziger Dorf

Danziger Dorf. Traditionspflege heißt, eine Geschichte lebendig zu halten, vergangene Leistungen zu würdigen und einen speziellen Zusammenhalt zu wahren. Einfach gesagt bedeutet es die Wertschätzung jenen gegenüber auszudrücken, die einen entbehrungsreichen Weg auf sich nahmen, um Zukunft und Sicherheit für ihre Familien zu schaffen. In Nord befindet sich ein Ort, an dem eine besondere Geschichte förmlich in der Luft liegt: das Danziger Dorf. Es ist bis heute die größte Siedlung für Danziger geblieben, die außerhalb ihrer ursprünglichen Heimatstadt liegt. Das ab 1936 erbaute Danziger Dorf ist so gut wie keine andere Siedlung Magdeburgs aus dieser Zeit dokumentiert. Am 5. November 1936 wurde das Richtfest für die ersten Häuser gefeiert. Aber erst 1988/89 gingen die ersten Häuser, wie damals zugesagt, in Privatbesitz über. Obwohl unter höchster staatspolitischer Bedeutung in den enddreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut, führten die Bewohnerinnen und Bewohner einen jahrzehntelangen Kampf um Anerkennung.

 

(Quelle: Leben im Magdeburger Norden, 2012)

Modell Danziger Dorf
Modell Danziger Dorf

Vorgeschichte

Im Zuge der Übersiedlung von Ostoberschlesiern ins "Reich" und zur gleichzeitigen Reduzierung der hohen Arbeitslosenquote in Danzig (damals Freistaat Danzig) wurden im gesamten Reichsgebiet  Städte und Gemeinden angewiesen, sowohl für die Unterbringung als auch für die Schaffung von  neuen Wohnungen für die Umsiedler zu sorgen. In diesem Zusammenhang entstand 1936 das Danziger Dorf am nördlichen Stadtrand Magdeburgs, zwischen der Ebendorfer Chaussee und dem Magdeburger Ring, einem Teil des heutigen Stadtteils Kannenstieg.

Die Siedlung besteht aus nur drei Straßen: Loitscher Weg, Bertinger Weg und Wenddorfer Weg, wobei der Wenddorfer Weg eine halbbogenförmige Verbindung zwischen den anderen beiden Straßen herstellt. Die ursprünglichen Straßenbezeichnungen (Langfuhrer Straße, Danziger Straße und Danziger Dorf) wurden 1951 ersetzt, auch der Name der Siedlung als Danziger Dorf durfte offiziell nicht mehr benutzt werden.

Vorlaubenhaus im Bau
Vorlaubenhaus im Bau

Zur wirtschaftlichen Entlastung des damaligen Freistaates Danzig hatte sich die Stadt Danzig hauptsächlich an Industriezentren im Reichsgebiet gewandt mit der Bitte um Arbeitsbeschaffung für Danziger Arbeitslose. Angesichts der Übersiedlungspolitik der National-sozialisten von Oberschlesiern ins Reich kam der Hilferuf aus Danzig nicht ungelegen. Es wurde daher beschlossen, in erster Linie verheiratete Arbeiter umzusiedeln, um die in Danzig zurückgebliebenen Familien so schnell wie möglich (nachdem die Wohnungsfrage geklärt worden war) nachkommen zu lassen und sie mit dem "Boden zu verwurzeln". Für die Übersiedlung wurden besondere Mittel für Umzugskosten bereitgestellt, - Ausgabe von sog. Bedarfs-deckungsscheinen - wo die eigenen Mittel der Danziger nicht ausreichten.

Während es dem Reich auf der einen Seite nicht schwer fiel, für die Danziger einen Arbeitsplatz zu beschaffen, erwies sich die Unterbringung der Familien als zentrales Problem für die Städte und Gemeinden, wobei es hierbei auch zu größeren Spannungen kam. Besonders für die Stadt Magdeburg bedeutete die Beschaffung von Wohnraum für die Danziger ein höchst brisantes Thema. Magdeburg, ohnehin mit dem Problem der notorischen Wohnraumknappheit in der Stadt konfrontiert, sah dem Zuzug der Danziger mit großer Sorge entgegen und versuchte durch Anschreiben an verschiedene Stellen im Reich eine Übersiedlung zu vermeiden.

Durch eine Verfügung des Reichsarbeitsministers vom 30. September 1935 wurden die Landräte und Oberbürgermeister von Städten und Gemeinden angehalten, mit allen Mitteln die Wohnungssuche für die Danziger zu unterstützen.

Wenddorfer Weg, 1937
Wenddorfer Weg, 1937

Baugeschichte

Anfang 1936 wurde der Bau des "Danziger Dorfes" in Magdeburg in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt Danzig und dem Reichsarbeitsministeriums geplant, Bau- und Lagepläne wurden erstellt, geändert und abgesegnet, der staatliche Zuschuss an den Regierungspräsidenten von Sachsen-Anhalt überwiesen. Die anfänglich gedachte Finanzierung durch die Preußische Landespfandbriefanstalt konnte nicht erfolgen. Für den ersten Baubeginn standen 300.000 RM sofort zur Verfügung, und das Hochbauamt wurde zur Eile angewiesen, die vorgeschlagenen Änderungen der Pläne durchzuführen, da bereits der Termin zum ersten Spatenstich zum Danziger Dorf feststand.

Am 4. April 1936 sollte der Senatspräsident der Freien Stadt Danzig, Greiser, in der Magdeburger Stadthalle sprechen. Am folgenden Tag sollte der erste Spatenstich erfolgen. Ein erster Lageplan musste abgeändert werden, da eine Bebauung an der Ebendorfer Chaussee als ausgewiesene Reichsstraße nicht genehmigt wurde.

Bertinger Weg, 1937
Bertinger Weg, 1937

Das Bauvolumen umfasste 188 Volkswohnungen. Um einen mit Linden umgebenen Dorfplatz entstanden 23 Doppelhäuser mit je vier Wohnungen, 11 Reihenhäuser mit je acht Wohneinheiten und im Anschluss an das Gemeinschaftshaus mit original Danziger Vorlaubenhaus ein größeres Wohnhaus. Zu jeder Wohnung gehören ca. 200 qm Gartenland, einst zum Anbau von Obst und Gemüse gedacht. Die Reihenhäuser haben keinen direkten Zugang zu den Gärten; um zum Stall oder Abort zu gelangen, mussten die Bewohner der innenliegenden Häuser an den außenliegenden vorbeigehen. Die Wohnungen wurden an die Danziger zu einem günstigen Mietzins von 25 RM vermietet. Nach einem Zeitraum von ca. drei bis fünf Jahren sollten "diese Volkswohnungshäuser an siedlungswillige und siedlungswürdige Bewohner zu eigen oder in Erbpacht" abgegeben werden. (StAM, Bp 35, Hm 41) Tatsächlich aber gingen die ersten Häuser erst 1988/89 in Privatbesitz über.

Vorlaubenhaus, 1939
Vorlaubenhaus, 1939

Mit dem Bau der Siedlung wurde im Juli 1936 begonnen, am 5. November wurde das Richtfest für die ersten Häuser gefeiert:

"Im nördlichen Stadtrandgebiet Magdeburgs, an der Ebendorfer Chaussee, fand das Richtfest für die ersten Häuser des "Danziger Dorfes", einer Großsiedlung der Stadtverwaltung, statt. Es handelt sich um eine Siedlung, die Danziger Volksgenossen eine neue Heimat werden soll. Die Siedler waren in Danzig jahrelang arbeitslos und können jetzt in Magdeburg wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden.

Baubeschreibung:

Raumlage: 23 Doppelhäuser für je 4 Wohnungen, 11 Reihenhäuser für je 8 Wohnungen,

1 Reihenhaus im Anschluss an das Gemeinschaftsgebäude für 8 Wohnungen, zusammen 188 Wohnungen.

Im Gemeinschaftsgebäude sind untergebracht:

1 Gaststätte mit Verkaufsraum und außerdem 2 Wohnungen.

In jedem Haus ist im Erdgeschoß eine Wohnung, bestehend aus Wohnküche und 2 Schlafräumen, im ausgebauten Dachgeschoß eine Einliegerwohnung mit Wohnküche und 2 Schlaf räumen vorgesehen. Der über der Kehlbalkenlage des Dachgeschosses vorhandene Raum soll als Bodenraum genutzt werden. Im Keller sind Waschküche und Vorratsräume untergebracht.

Bauherr: Vereinigte Bauverwaltungen, Hochbauamt

Baukosten: 526.201,44 RM (aus der Bauakte)

Vorlaubenhaus, 1941
Vorlaubenhaus, 1941

Luftschutzräume waren 1936 noch nicht zwingend vorgeschrieben. Der Dorfteich, der im Falle eines Feuers als Löschteich dienen sollte, hätte wegen der beträchtlichen Längenausdehnung der Siedlung nicht genügt, so dass auch aus Luftschutzgründen die Anlage eines Feuerlöschbrunnens an der südlichen Randstraße der Siedlung empfohlen wurde. (Ein Teich wurde nie angelegt.)

Erst 1938 wurde das Gemeinschafthaus nachträglich mit einem Luftschutzkeller versehen, welcher jedoch nur für 60 Personen den vorgeschriebenen Mindestluftraum von 3 cbm gewährleistete.

Der Anschluss an die städtische Wasserleitung, im Gegensatz zur Kleinsiedlung immer beim Bau von Volkswohnungen garantiert, konnte im Danziger Dorf wegen "Schwierigkeiten in der Abwasserunterbringung" nicht erfolgen.

Das Vorlaubenhaus

Das Vorlaubenhaus, erst 1938 nach dem Vorbild eines Danziger Vorlaubenhauses errichtet, wurde als Gemeinschaftshaus für die Bewohner des Danziger Dorfes geschaffen. Gemeinsam mit dem gegenüberliegenden einstigen Dorfanger bildet es das Zentrum der Siedlung.

Die vorgesetzte Bruchsteinmauer wurde mit den Wappen der Städte Magdeburg und Danzig versehen und als Gedenkstätte verstanden.

Das Gemeinschaftshaus enthielt neben einem "Kolonialwarenladen" und der Gastwirtschaft einen mit der Gastwirtschaft verbundenen Gemeinschaftsraum für Versammlungen aller Art.

Im Obergeschoß war je eine Wohnung für den Gastwirt und für den Kaufmann vorgesehen. Vier Reihenhäuser mit je 2 Wohnungen schließen sich nach Norden an.

Siedlungsgeschichte

Keine andere Siedlung aus dieser Zeit ist in Magdeburg so gut dokumentiert wie das Danziger Dorf, was nicht zuletzt auf die besondere Bedeutung dieser Siedlung zurückzuführen ist. Gebaut unter dem Aspekt höchster staatspolitischer Bedeutung verfolgte die Öffentlichkeit von Anbeginn ihrer Planung die Siedlung mit besonderem Interesse. Bis heute ist das Danziger Dorf in Magdeburg die größte Siedlung für Danziger außerhalb ihrer ursprünglichen Heimatstadt geblieben.

Trotz der zahlreichen politischen Umwälzungen, welche die Siedlung in der Zeit ihres Bestehens erlebt hat, weist sie eine gewisse Beständigkeit auf, was nicht zuletzt daran liegt, dass viele Bewohner ihrem "Dorf" treu geblieben sind.

Als die Wohnungen in der Siedlung Danziger Dorf zum Einzug freigegeben wurden, gab es oft noch lange keinen Grund zum Jubeln. Viele zogen im Winter 1937 ein. In den Häusern fehlten noch Türen und Fenster, die von den Bewohnern erst provisorisch angefertigt werden mussten, und wer kein Material hatte, musste auch schon einmal mit einer Matratze die Haustür ersetzen. Wie in vielen anderen vorstädtischen Siedlungen war auch hier der Weg zur Schule und zum Einkaufen lang und beschwerlich. Dennoch zeugen Fotos und Erzählungen davon, dass die Bewohner im Laufe der Zeit im Danziger Dorf ein neues Zuhause gefunden haben und eine gute Nachbarschaft pflegten.

Wenngleich die Danziger Familien auf der einen Seite von großem Glück sprechen konnten, dass ihnen die Stadt eine eigene Siedlung mit neugebauten Wohnungen zur Verfügung stellen konnte, so war auf der anderen Seite das Leben in diesen Wohnungen nicht einfach.

Im Krieg wurde ein Teil der Siedlung schwer beschädigt und zum Teil zerstört. Bei einem Luftangriff wurde das Vorlaubenhaus getroffen; 38 Menschen starben im darunterliegenden Luftschutzkeller.

Als viele Danziger 1945 ihre Heimat über Nacht verlassen mussten, kamen etliche von ihnen auch nach Magdeburg und in Danziger Dorf zu Bekannten und Verwandten. In den folgenden Jahren begannen die Bewohner sich verstärkt um ihre Siedlung zu kümmern. Unter schwierigen Bedingungen haben sie schrittweise ihre Siedlung in die Moderne geführt und sie den heutigen Bedürfnissen angepasst Zunächst besorgten sich die Siedler aus den Trümmern der Umgebung Material und bauten das Gemeinschaftshaus und andere zerstörte Häuser ihrer Siedlung wieder auf.

Da die meisten Brunnen der Siedlung aufgrund der fehlenden Kanalisation verseucht waren, wurde eine Änderung der Abflussanlage notwendig; für die Entwässerungsanlage machten sich die Siedler selbst Anfang der 60er Jahre an die Arbeit.

Ebenfalls in Eigenarbeit wurde in den achtziger Jahren eine Bewässerungsanlage gebaut, Fußwege gepflastert und sogar ein Spielplatz auf dem ehemaligen Dorfanger errichtet. Hinter dem Gemeinschaftshaus bauten die Siedler einen Geräteraum und kauften nach und nach Werkzeug und Geräte, die allen Bewohnern nach Bedarf zur Verfügung standen

Der eigentliche Grund dafür, weshalb das Danziger Dorf bis heute viel von seinem ursprünglichen Charakter beibehalten hat, liegt nicht zuletzt in dem großen Zusammenhalt der Siedler selbst, für die das "Dorf" noch heute ein Stück Heimat bedeutet und weshalb sie ihre Siedlung die ganzen Jahre hindurch ungeachtet der politischen Umwälzungen seit jener Zeit mit großem Zeit- und Arbeitsaufwand, Eifer und Liebe gepflegt und gehegt haben.

(Quelle: Landeshauptstadt Magdeburg, Nationalsozialistischer Wohn- und Siedlungsbau, 1995)

Jetzt erhältlich - Ausgabe 63
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